Freitag, 12. Oktober 2018

Wenn so das Paradies aussieht, wie dann die Hölle ...?

Östlich Regenburg vorgelagert, in Tegernheim, im Gewerbegebiet am Kreisverkehr, residiert zwischen KiK und Spielcasino die Pizzeria von Michele Minisgallo, die sich bis vor nicht allzu langer Zeit mittels eines riesigen Schildes über dem Eingang rühmte, einst den Weltmeistertitel im Pizzabacken erkämpft zu haben. Weshalb sie  Pizzeria Paradiso da Carlo heißt, erschließt sich dem Gast nicht.

Ich war dort zwei-, dreimal zu Gast in der Vergangenheit, zum ersten Mal kurz nach der Eröfffnung, und habe dort nie etwas anderes als Pizza gegessen.

Ordentliche Pizza, aber nicht besser oder schlechter als Pizza, wie man sie anderswo im Raum Regensburg im Durchschnitt serviert. Meiner höheren Erwartungshaltung geschuldet, sogar eher enttäuschend. So ein Weltmeistertitel kann eine Bürde sein, weshalb mal möglicherweise heute nicht mehr so marktschreierisch mit dem Titel hausiert wie einst. Vielleicht hat der Weltmeister auch längst den Özil gemacht, wer weiß?

Nach einem langen Tag zog es mich neulich unter der Woche mit einem Arbeitskollegen, dem der Magen knurrte wie ein Rudel Wölfe, gegen 21 Uhr in die nämliche Pizzeria Paradiso da Carlo.
von Robert Bock

Ich war noch nie in Carlos Interpretation des Paradises, wenn es draußen schon finster war. Meistens saß ich im notdürftig vom Parkplatz abgeschirmten Freisitz vor dem Lokal. Heute, drinnen, bei künstlichem Licht, leben hier die 1990er Jahre auf, als entstiegen Vampire mordig-feuchten Gruften.

Nicht ihre ästhetisch schmeichelhaften Seiten präsentieren sie hier, die Neunziger, eher die anderen, über die - wer dieses Jahrzehnt bewußt erlebt hat - beim Betrachten alter Fotoabzüge seiner selbst und seiner damaligen Behausung, nachsichtig, aber kopfschüttelnd den Mantel des Schweigens breitet ...

Wem das nicht so geht, dem gefällt es womöglich hier, denn wem Farborgien in Rot und Apricot, Schützenhausbestuhlung und Lichtverhältnisse wie in einer Geisterbahn einen Abend zum kulinarischen Erlebnis werden lassen, der fühlt sich hier mutmaßlich pudelwohl. Klar, wer eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten trägt, der auch.

Der Gastraum ist beinahe so geräumig wie der Parkplatz vor der Tür, und wirkt auf mich offen, kühl und räumlich unzureichend gegliedert - eben wie ein Parkplatz.

An vier weiteren Tischen sitzen Gäste. Ein Mann mittleren Alters kämmt sich eine feuchte Frisur von seiner massigen Stirn her Richtung Hinterkopf und lässt seinen Kamm in der Gesäßtasche verschwinden. Später gesellt sich eine üppig stuckatierte Dame seines Alters in Tigerprintbluse zu ihm, die nicht einzusehen gewillt scheint, dass die Zeiten, da sie Größe 36 tragen konnte, wie lang wohl schon?, vorbei sind.

Ein noch recht junger Pizzaiolo hantiert am Ofen. Hmmm, ob das der Weltmeister ist? Eher nicht. Dem Alter nach, dürfte der junge Mann zur Zeit des Titelgewinns von Michele, Carlo oder wem auch immer, mit dessen Fähigkeiten hier Werbung gemacht wurde, noch in der Grundschule das kleine Einmaleins gebüffelt haben ...

Fast ist es mir peinlich, dass ich meinem Kollegen dieses Lokal vorgeschlagen habe. 10 Minuten Fahrt, und wir hätten auch bei Davide de Lorenzis in der Pizzeria da Carmine einkehren können. Dort wäre das Ambiente einladender gewesen und die Pizza - auch ohne Weltmeistermeriten - eine Bank.

Meinem Kollegen ist das Interieur des Paradiso gottseidank wurscht. "Hauptsach a guade Pizza", meint er und ist neugierig darauf, ob der Ruf, der der Spezialität des Hauses vorauseilt, gerechtfertigt ist.

Die Karte ist umfangreich, sehr umfangreich, und ohne erkennbare küchenstilistische oder regionale Philosophie. Der Pizzateil dominiert und glänzt mit einigen nicht überall angebotenen Varianten wie weißen Pizzen mit Sahne.

Leider auch mit kulinarischen Tritten ins Gemächt vom Schlage einer Pizza Hawaii. Erfunden wurde die 1962 in Chatham (Ontario, Kanada). Keineswegs von einem Italiener, von einem griechischen Gastronomen namens Sam Panopoulos. Späte Rache der Griechen am einst verhassten Besatzer aus dem 2. Weltkrieg?

Weder will ich persönlich bei einem Italiener Pizza Hawaii, noch beim Griechen Gyros in Metaxasoße auf einer Speisekarte sehen. Man muss weder den einen, noch den anderen kulturell degenerierten Mist anbieten, nur weil selbst Schweine ihn fressen, wenn man ihn ihnen in den Trog wirft. Wo bleibt das legendäre Ehrgefühl der Italiener, wo ihr Stolz auf die lange und großartige Tradition ihrer Küche(n), wo?

Ich entscheide mich für die uritalienisch nach Blauer Grotte, Dolce fa niente und Amore klingende "Pizza Tegernheim" mit Tomate, Kochschinken und Gorgonzola, mein Kollege für eine zum Hörnchen verdrehte Calzone-Variante namens "Cornetto", gefüllt mit Tomaten, scharfer Salami und Gorgonzola, garniert mit Rucola und Grano Padano.

Dazu für mich ein Bier. Die Preise für die Weine sind hier - wie leider bei sehr vielen Italienern dieses Zuschnitts - völlig überzogen und die Qualität der offenen Weine in der Regel eine Schande für den Ruf der italienischen Weinwirtschaft. Ausnahme: Die Pizzeria Piehlmühle, wo Franco Esposito eine mit Liebe und Sachverstand zusammengestellte Auswahl feiner und fair bepreister Weine anbietet, was einschließt, dass sie nicht zwingend aus Italien stammen müssen, sondern sauber gemacht und zur Speise passend.

Ich habe im Paradiso da Carlo in der Vergangenheit bereits Wein zum Essen bestellt und will mich heute nicht erneut und auch noch vorsätzlich ärgern. Drum kein Wein, drum Bier. Ein Schneider Aventinus. Einer unbestimmten Ahnung folgend, setze ich präventiv auf die nervenberuhigende Wirkung hoher Stammwürze ...

Geliefert wird zwar distanziert freundlich, aber freundlich, und prompt.

Ich stutze: Ziemlich klein ist meine Pizza. Das kenne ich von früher her anders hier ... Wobei der Durchmesser einer Pizza für sich gesehen kein Qualitätskriterium ist, damit wir uns nicht missverstehen!

Der Rand meiner Pizza ist dick und wulstig, als säßen wir bei Pizza-Hut, nur dass der integrierte fädenziehende Käse in diesem Tegernheimer Teigschwimmreifen fehlt.

Seit wann orientiert sich ein gestandener italienischer Pizzabäcker an der Pizza amerikanischer Machart: Dick, fluffig, teigig, laff und latschig der Boden statt hauchdünn,  crispy und weder zu dünn, noch zu dick der Belag?

Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, wenn der Rand prozentual einen erklecklichen Teil der Fläche einer Pizza vereinnahmt. Sofern er knusprig ist und nicht laff&lätschert und wenn mir ein gutes Olivenöl dazu gereicht wird, wie beispielsweise im Gaston in den Meraner Lauben. Unter diesen Voraussetzungen, soll eine Pizza von mir aus zu 90% aus Rand bestehen, ich würde mich in himmlischen Gefilden wähnen!

Von der besonderen Knusprigkeit seiner Pizze aus dem Holzbackofen, die Carlo auf seiner Website hervorhebt, merke ich heute leider nichts. Im Gegenteil, der Teig ist gerademal so irgendwie durch und latschig wie zu lang gekochte Pasta. Knusprig ist und schmeckt völlig anders.

Wer beim Inder schon einmal ein Naan-Brot bestellt hat, das zum Tunken in Suppen und Daals dient, hat eine Ahnung dessen, was mir hier an "Knusprigkeit" serviert wurde. Auch der Sugo hat zu niedrige Hitze oder die Hitze zu kurz gesehen, wodurch es ihm an der typischen Süße fehlt, die gute Tomaten bei hohen Temperaturen entwickeln, wenn ihr Zucker karamellisiert. Wie sous-vide-erwärmte, passierte, gänzlich ungewürzte Tomaten aus der Dose schmeckt die Basis des Belages. Kein Flöckchen Meersalz, kein Anflug Frucht - nichts!
Kochschinken und Gorgonzola sind von normaler Qualität, können es ergo ebenfalls nicht herausreissen. Nein, so leid es mir tut, diese Pizza Tegernheim war heute in der Summe nichts. Gar nichts!

Nicht wesentlich anders oder besser - seiner Aussage nach - das Cornetto meines Kollegen.

Beide mampfen wir stumm die Hälfte, bevor einer von uns beiden den Mund aufbringt. Sollen wir unsere halbgaren Pizze nochmal in den Ofen schieben lassen?

Pfeif' drauf, meint mein harmoniebedürftiger Kollege. Würde sich der Service zwischendurch nach unserer Zufriedenheit erkundigen, ich würde reklamieren.
Doch nicht einmal beim Abtragen entfleucht dem Servicemitarbeiter eine Frage diesbezüglich ... Geht man im Paradiso da Carlo davon aus, dass es unzufriedene Gäste ob eigener Großartigkeit gar nicht geben kann?!
Mein Grundsatz: Wer mich unmittelbar vor Ort fragt, bekommt unmittelbar mündliches Feedback - wem mein Befinden als Gast egal ist, kann meine persönliche Meinung hinterher hier in aller Ruhe und so oft er möchte nachlesen.

Was tun, um den teigigen Geschmack aus dem Mund zu bringen? Noch zu McDonalds oder geben wir dem Wirt eine Dessert-Chance?

Er bestellt sich Tiramisu, ich Panna Cotta. An meiner Panna Cotta habe ich nur auszusetzen, dass Sprüh-Schlagsahne und mittelmäßige Marmelade oder Kompott darauf überflüssig sind, ansonsten ist sie in Ordnung. Die in ein Glas geschichtete Tiramisu habe ich nicht probiert, erfahre aber, sie sei gut gewesen.

Dopo una mangiata, non deve mancare il caffè: Zwei hervorragende Espressi - je für schlanke 1,60 Euro - und wir verfallen ins Sinnieren ...

Unser Feierabend gipfelt in einer philosophischen Frage meines Kollegen: "Wenn so das Paradies aussieht, wie dann die Hölle ...?"

Wer weiß, vielleicht gelänge es uns, den Paradiesvorschlag gleich welchen Mannes erst zu würdigen, wenn wir die Umstände seiner Ehe kennen würden ...

Leider muss mein Fazit heute mau ausfallen: Eine handwerklich derart verpfuschte Pizza habe ich lange nicht gegessen. Schlechter eigentlich nur in Torbole am Gardasee und noch schlechter beim SSV Jahn in der Continental-Arena und in der Uni-Mensa.

Woran lag's mutmaßlich ...? Hatte das verwendete Mehl zu wenig Klebereiweiß? 12% -14% Gluten statt der gängigen 8-10% hiesiger Haushaltsmehle sollten es schon sein für eine anständige italienische Pizza, Glutenproblematik hin oder her.

Idealerweise verwendet man ein italienisches TIPO 00, aber solches speziell für Pizzateig. Verwendet man ein Mehl mit zu wenig Gluten (und/oder lässt ihm zu wenig Ruhe, so dass sich Eiweiß und Stärke nicht hinreichend verbinden können), schnurrt der Teig nach dem Ausformen (Pizza stets mit der Hand, nie mit dem Nudelholz bearbeiten, das presst die Luft aus dem Teig, die man aufwändig mittels Hefegärung hineingebracht hat!) hastdunichtgesehenwieschnell wieder zusammen und es wird keine dünne Pizza mit dem perfekte Crisp resultieren, sondern Schrumpfpizza mit LKW-Reifenrand. Vielleicht, um die Spekulation weiterzutreiben, wurde auch zu viel Hartweizengries (für den Geschmack und die Textur) hinzugefügt? Der hat wenig Klebereiweiß und in der Summe resultiert wieder der Zusammenschnurr-Effekt.

Welcher handwerkliche Fehler im Detail auch immer dem Teig den Rest gegeben hat: Der Teig ist, so mein Rekonstruktionsversuch, nach dem (hauchdünnen) Ausbreiten zusammengeschnurrt, daher die optisch recht kleine Pizza, daher zu dick und zu teigig. Länger im Ofen, dann wäre der Teig zwar immer noch zu dick, jedoch optimal durchgebacken und knusprig gewesen, dafür aber wären Kochschinken und Gorgonzola verkohlt. Der Pizzaiolo stand also vor der  Wahl zwischen Pest und Cholera.


Wie kann das einem Profi passieren? Lernt der junge Pizzabäcker gerade erst sein Handwerk? Falls ja: weshalb schaut ihm der (Küchen)chef, der mit Weltmeistermeriten prahlt und es ohne Zweifel besser können muss (!), beim Dilettieren nicht auf die Finger ...?

Am Ende zählt - das musste Die Mannschaft im Sommer lernen, wie die Squadra Azzurra und La Furia roja vor ihr - kein Titel aus der Vergangenheit. Es zählt nur, was hier und jetzt an den Gast geschickt wird und das war heute - was die Pizza betraf, nicht die Desserts - indiskutabel.


Dem Ambiente fehlen allenfalls noch Spielautomaten und musikalische Untermalung durch Al Bano und Romina Power zur stilistischen Vollendung. Die Farborgien in Rot und Apricot sind bei Tageslicht halbwegs erträglich, bei Kunstlicht gruselig.

Positiva: Die Desserts waren in Ordnung, der Cafè hervorragend, der Service präsent, zwar distanziert, aber in der Ausführung - bis auf fehlende Nachfragen nach unserer Zufriedenheit - ohne Tadel.

So wird es schwer sich gegen Konkurrenz wie (exemplarisch) Da Carmine und Franco Esposito in Pielmühle  durchzusetzen. Will Michele Minisgallo vielleicht gar nicht. Womöglich stellt sein Restaurant das Ebenbild seiner Paradiesvorstellung dar, die dummerweise meiner halt nicht ansatzweise ähnelt?
Vielleicht ruht Michele sich, statt sich dem Zug der Zeit anzupassen, lieber so lange auf welkem Weltmeister-Lorbeer aus, bis keiner seiner Gäste wiederkommen mag, weil ihnen die Dr.-Oetker-Pizza vom Netto gegenüber besser schmeckt als seine und daheim nicht aussieht wie ein Aprikosenstreuselkuchen?

Stillstand ist Rückschritt. Ich könnte noch weitere Olli-Kahn-Aphorismen auspacken. So mancher italienische Gastronom schläft den Schlaf des Selbstgerechten und es wundert mich, wie man damit heutzutags noch über die Runden kommt. Man möchte manchen Gastronomen, dem alles so scheißegal scheint, dass er sogar Pizza schickt, für die man ihn in Napoli bei den Fischen schlafen lassen würde, an den Schultern packen und durchschütteln! Aber mit uns Crucchi kann man's anscheinend machen.

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