Um zwei gänzlich gegensätzliche Gasthäuser geht es und zwei sich wie Tag und Nacht voneinander unterscheidende Erfahrungen. Das ist Südtirol, deswegen mag ich diesen Flecken Land so sehr: Es kann so viel dich überraschen ...
von Robert Bock
Im Restaurant Apollonia in Sirmian (930 Hm)
Ein vormittäglicher Ausflug an die Südtiroler Weinstraße nach Eppan, Kaltern und Tramin, findet für mich seit einem Südtirolbesuch im Herbst 2015 seine logische kulinarische Abrundung im Restaurant Apollonia in Sirmian.Heute, anders als damals, zum Mittag-, nicht zum Abendessen. Das erweist sich als Fehler, denn das Lokal ist brechend voll mit lauten Menschen und ihrem noch lauteren, übermüdeten und schlecht erzogenem Nachwuchs: Einheimische, die es sich dort am italienischen Nationalfeiertag gut gehen lassen ...
Sei ihnen gegönnt, aber mich stört in einem Restaurant mit gehobenem Anspruch rummelplatzartige Atmosphäre, die obendrein durch zwei herausragende Vorfälle gekrönt wird: Ein Wirt, der Zimmermannsnägel in gelockerte Bodendielen drischt - und dies rund 5 Minuten lang - damit weder Personal noch Gäste zu Sturz kommen und ein vorwarnungslos losbrechendes Gewitter samt Hagelschlag, dem die Markisenkonstruktion über der Aussichtsveranda nur bedingt Paroli bietet und die Gäste eine gute Stunde ans Haus fesselt.
Ungeachtet der genusswidirgen äußeren Umstände, ist die Küche des Restaurants auch an diesem Mittag wieder hervorragend aufgelegt: Wir entscheiden uns beide, mangels großen Hungers, für eine portionsmäßig etwas aufgepimpte Vorspeise von der Schiefertafel aus dem Tagesangebot: Hausgemachte Kartoffelteigtaschen mit Löwenzahn-Speckfüllung, für die man uns 11,90 EUR berechnen wird.
Ein fairer Preis im Unterschied zu den in Südtirol üblichen frivolen Preisen für ihre - meines Erachtens - zu Unrecht gehypten Weine.
So auch hier: Ein Weißburgunder und ein Riesling darf nicht 5 EUR und mehr für 0,1 Liter (!) kosten, selbst dann nicht, wenn namhafte Weingüter ihn produziert haben. Das ist unverschämt.
Beide Weine zeigen sich zudem fern der Klasse deutscher Weine gehobener Weingüter aus Franken oder dem Rheingau. Man provoziert meiner Meinung nach mit Snob-Effekten und versucht Preis-Qualitäts-Ausstrahlungseffekte auszureizen südlich des Brenners - und allzu viele Weintrinker fallen (leider) auf des Kaisers neue Kleider herein.
Träge im Glas, fehlende Frische und penetrantes Parfüm - so präsentierten sich auch auf dieser Reise alle von uns verkosteten Weine, nicht nur jene im Restaurant Apollonia. Wem solcher Durchschnitt gefällt, dem rate ich seinen oenologischen Horizont in heimischen Gefilden nördlich des Brenners zu vertiefen und vor allem nichts aufs Marketinggeschwurbel der hiesigen Weinbauindustrie nebst der von ihr allimentierten Weinjournaille zu geben. Ich persönlich kenne kein Weinbaugebiet in Europa, das in der Breite so überschätzt wird wie Südtirol, und keines so unterschätzt wie Franken.
Die Kartoffelteigtaschen bestechen duch einen buttrig-zarten Teig aus hervorragenden Kartoffeln, eine herb-würzige, schön nach Speck und bitterem Löwenzahn schmeckende Füllung und einem himmlischen Graukäse zur braunen Butter, in der das schön angerichtete Ensemble zum Verzehr einläd. Die Krönung: Der kross gebratene Südtiroler Speck obenauf. Großartig!
Zum Nachtisch bestellt sich meine charmante Begleiterin Gebackene Apfel-Mohnkrapfen mit Birnen-Sauerrahmeis (8,10 EUR, ich ein Gläschen Dessertwein, einen Rosenmuskateller Schweizer von Franz Haas, 5cl zu 7,00 EUR.
Mein Rosenmuskateller besticht durch Monoaromatik: Kornellkirsche mit zartbitterem Abgang. Nicht der Rede wert, da keine vielschichtigen Facetten. Für Südtiroler Qualitätserwartungen möglicherweise ein Knüller, international gesehen leider ein Non-Event.
Ich hätte diese hinreissenden gebackenen Apfel-Mohnkrapfen nehmen sollen. Ein superbes Dessert, das man in Komposition, Zutaten und Machart keinen Deut besser machen kann. Bravo!
Apollonia gerne wieder - dann aber unbedingt wieder am Abend, wenn das Publikum sich dem Niveau der Küche angemessen zu benehmen weiß.
Im Gasthof Unteröberst in Vernuer (ca. 1450 Hm)
Ein anderer Tag ein anderer Ausflug. Diesmal zum Abendessen in die Gemeinde Riffian im südlichen Passeiertal, Ortsteil Vernuer.
Es schraubt sich von der Hauptstraße, die Jaufenpass und Timmelsjoch mit dem Meraner Land verbindet, eine atemberaubende, da steile und enge Serpentinenstraße von rund 400 auf über 1400 Meter Höhe. Mit in der Spitze 25 Steigungsprozenten und engen Haarnadelkurven ist die wohl selbst für den Zirkus des Giro d'Italia zu steil. Man hätte auch hinaufwandern können, aber lassen wir das ...
Am Nachmittag hat es gewittert. Hier droben, werden wir erfahren, sind gar erbsengroße Hagelkörner vom nahen Himmel geprasselt. Mit Gästen hat der Lamprecht Sepp vom Gasthaus Unteröberst nicht mehr gerechnet. Er kümmert sich gerade ums Vieh im Stall, als wir ankommen.
Es ist mein erster Besuch hier oben in Vernuer und ich weiß nicht, was mich in diesem Moment mehr fasziniert: Die atmenberaubende Aussicht oder dieser knorrige Bergbauer mit seiner wettergegerbten Haut und funkelnden, jugendliche Augen. 84 Jahre ist er mittlerweile alt, werden wir von ihm im Laufe eines denkwürdigen Abends erfahren. Bald wird er diamantene Hochzeit feiern: "60 Jahre liegen beim Feind" nennt das der Sepp und der Schalk blitzt auf in seinen Augen.
Die Tochter, die sich sonst um die Küche kümmere, sei heut schon gegangen, entschuldigt er sich. Man habe angesichts des Wetters nicht mehr mit Gästen gerechnet.
Sepps Frau begrüßt uns ebenso herzlich wie ihr Mann und wir besprechen gemeinsam, was man denn improvisiert schnabulieren könnte ... Sepp zählt auf: Eier mit Speck?
Eine Brettljause mit - selbstverständlich! - von ihm höchstpersönlich geräuchertem Speck? Jawohl - eine gemischte Brettljause für zwei, dazu eine Flasche Wasser und einen halben Liter Rotwein! Von dem kostet der halbe Liter soviel wie ein Fünftel des Weins im Restaurant Apollonia. Wir wollen der bald 80 Jahre alten Frau Lamprecht keine großen Umstände machen. Brotzeit ist auch gut!
Die Stube des Gasthauses Unteröberst gleicht einem Ausflug in eine andere Zeit und Welt. Eine Bettstatt über dem Ofen, Holzvertäfelung, Gamsgeweihe, Herrgottswinkel. Alles echt, kein für die Touristen arrangierter Kitsch. Die Lamprechts leben hier tatsächlich. So riecht es auch: nach Wolldecken, Vieh und Räucherkammer - nach zweier Menschen Heimat.
Der Sepp, der vermutlich seinen Hut sogar im Bett nicht ablegt, ist auf diesem Hof geboren und aufgewachsen. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Seine Frau stamme aus Dorf Tirol erzählt er. Sie leben beinahe ein Jahrzehnt länger gemeinsam hier oben, als ich auf dieser Welt bin.
Die Brettljause mit gutem Brot ist so opulent, dass wir sie kaum packen. Dafür aber bestellen wir noch ein zusätzliches Viertel Wein - ein für die Gegend sehr typischen Vernatsch, den ich ansonsten so gar nicht leiden kann, aber der mir hier oben mundet wie ein 99-Parker-Punkte Edeltropfen. Das mag an Sepp Lamprecht und seinen Geschichten liegen. Er hat sich nämlich mittlerweile zu uns gesellt und erzählt von sich, seinem Leben und der Geschichte seiner Heimat und Familie.
Ein Charmeur vor dem Herrn ist er, der Sepp. Unschwer zu erahnen, wie er als junger Kerl den Mädels den Kopf verdreht haben dürfte ...
Dieser Anisler zieht mir mit seinen weit über 40% Alkohol nach rund einem halben Liter Rotwein regelrecht die Beine unter dem Tisch im Herrgottswinkel weg. Aber: Halleluja, das ist ein Schnaps! Der Ouzo Südtirols, so kann man sagen. Und erst dem Sepp sein hausgeräucherter Speck ... Er verrät uns, wie er den macht. Nicht alle Südtiroler Spezialausdrücke für die verwendeten Gewürze habe ich verstanden, aber dass es sich um ein uraltes Rezept seiner Familie handelt, macht diesen Speck zu einem Unikat wie seinen Schöpfer. Froh und dankbar bin ich, dass ich Sepp Lamprecht kennenlernen durfte.
Es beginnt zu dunkeln und wir sind satt und zufrieden. Meine charmante Begleiterin lässt das Auto geschmeidiger bergab gleiten, als sie es den steilen Berg hat erklimmen lassen. Ja, ja der Anisler - ein in jeder Hinsicht denkwürdiger Abend! Die letzte Stärkung in großer Höhe ist verspeist, meine Tage in Südtirol sind für diese Saison gezählt ... Ich hoffe , der Sepp lebt noch, wenn ich wiederkomme ... Je früher, desto besser.
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